"Wir stehen in Opposition zur sozialen Ungerechtigkeit"
Interview mit Janine Wissler, ist Co-Spitzenkandidatin der Linken, erschienen im August 2021
INTERVIEW: ANNETTE BRUHNS
Frau Wissler, als Spitzenkandidatin einer Partei, die für soziale Gerechtigkeit steht, dürften Sie gerade bei Verkäuferinnen und Verkäufern von Straßenzeitungen Erwartungen wecken. Was würden Sie für obdachlose Menschen tun, wenn Sie in die Regierung kämen?
An erster Stelle müssen wir Wohnungen vermitteln. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass Menschen ohne Krankenversicherung medizinisch behandelt werden. Das hat für mich Priorität: Housing First und die medizinische Versorgung, und zwar jetzt. Denn durch die Coronakrise hat sich die Lage obdachloser Menschen noch zugespitzt.
Wenn das Wahlergebnis für Rot-Rot-Grün reicht, könnten Sie Vizekanzlerin werden. Doch die Linke legt die Latte für eine Regierungsbeteiligung hoch: Sie fordert eine Auflösung der Nato und ein Ende der Bundeswehr-Kampfeinsätze im Ausland. Weshalb sollten Menschen Sie wählen, fragt "Trott-war" aus Stuttgart, wenn sie sich nicht darauf verlassen können, dass Sie Verantwortung übernehmen würden?
Regieren ist kein Wert an sich. Wir wollen wirklich etwas durchsetzen. Wenn es Mehrheiten gibt für eine gerechtere Steuerpolitik, für Umverteilung, für bezahlbare Mieten und gut entlohnte Pflegekräfte, sind wir natürlich bereit, in eine Regierung einzutreten. Für ein "Weiter so" sind wir nicht zu haben.
Anders gefragt: Glauben Sie, dass potenzielle Wählerinnen und Wähler Verständnis dafür haben, wenn Sie rote Linien für eine Regierungsbeteiligung ausgerechnet in der Außenpolitik ziehen?
Die Linke ist konsequent als Friedenspartei, aber die Auflösung der Nato ist keine Entscheidung, die eine deutsche Bundesregierung alleine treffen kann. Sie kann aber den Rüstungsetat senken, der seit 2014 um 35 Prozent gestiegen ist – sogar im Corona-Jahr noch um 8,4 Prozent! Wir sind gegen das Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben. Statt in Waffen wollen wir in Soziales, in Bildung und Klimaschutz investieren. Sicher muss man Kompromisse eingehen, aber die müssen in die richtige Richtung gehen. Schwache gegeneinander auszuspielen, etwa das Asylrecht zu verschärfen, um dafür an anderer Stelle soziale Verbesserungen zu erreichen, geht für uns nicht. Wir brauchen internationale Solidarität mit Kriegsflüchtlingen, wie mir kürzlich bei einem Besuch im Geflüchtetenlager auf Lesbos wieder sehr bewusst wurde.
Linke Politiker – von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) bis zu US-Präsident Joe Biden – wollen eine globale Mindestbesteuerung für Konzerne einführen. Europas Steueroasen – Luxemburg, Irland – sträuben sich dagegen. Wie wichtig ist Ihnen dieses Ziel?
Sehr wichtig! Unterschiedliche Steuersätze und Steuerdumping sind ein riesiges Problem, denn dadurch können Konzerne Staaten gegeneinander so gegeneinander ausspielen, dass die öffentliche Hand am Ende immer verliert. Auch die Besteuerung von Vermögen muss harmonisiert werden. Sie ist in den USA übrigens deutlich höher als hier.
Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow hat gerade die Partei ermahnt, nicht nur über eine Vermögenssteuer zu reden, sondern sich für diejenigen einzusetzen, die durch die Coronakrise zu verarmen drohen. Hat er Recht?
Wir weisen immer wieder auf die Situation hin, dass einige wenige durch die Pandemie reicher geworden sind, und sehr viele ärmer. Viele wissen nicht, wie sie die Miete nach Monaten in Kurzarbeit noch bezahlen sollen, Menschen in der Gastronomie, Minijobber, die ihre Jobs verloren haben, Selbständige ohne Perspektive. Die Lufthansa hat neun Milliarden Euro bekommen, auch für die TUI gab es Milliardenhilfen – bei den Solo-Selbständigen gab es dagegen absurde bürokratische Begründungen, wegen derer man ihnen angeblich nicht helfen kann.
Was ist mit den Arbeitsmigrantinnen und -migranten, von denen nicht wenige auf unseren Straßen stranden: Unter welchen Bedingungen sollten ausländische EU-Bürger/innen in den Genuss des von der Linken visionierten Sozialstaats kommen, der jeder und jedem eine Mindestsicherung von 1200 Euro bietet?
Die Situation osteuropäischer Arbeitsmigrant/innen ist vielerorts dramatisch. Wir fordern, dass es Boardinghäuser mit Einzelzimmern geben muss zur Unterbringung von Saisonkräften, und natürlich: soziale Absicherung und Schutz. Viele arbeiten ohne Krankenversicherung. Das ist Wahnsinn. Erntehelferinnen und -helfer dürfen in Normalzeiten 70 Tage ohne Sozialversicherung arbeiten, das hat die Bundesregierung – unter Verweis auf die Coronakrise – auf mehr als 100 Tage ausgeweitet. Dabei ist es gerade in einer Pandemie und bei harter körperlicher Arbeit mit hohem Verletzungsrisiko nicht hinnehmbar, ohne Krankenversicherung zu arbeiten. Gewerkschafter von der IG BAU berichten von Menschen, die hier wochenlang arbeiten und dann wegen einer medizinischen Behandlung verschuldet nach Hause fahren. Hier in Wiesbaden haben rumänische Bauarbeiter für 1,02 Euro pro Stunde gearbeitet. In Hessen, nicht in Katar! Und oft zahlen Saisonkräfte und Wanderarbeiter/innen für ein Bett im Sechsbettzimmer den gleichen Quadratmeterpreis wie in einem Penthouse in Berlin-Friedrichshain, was ihnen vom Lohn abgezogen wird. Das ist Ausbeutung pur.
Was muss passieren?
Wer hier arbeitet, muss ab dem ersten Tag sozialversichert sein. Das ist auch wichtig für die Rentenansprüche, sowie dafür, dass das allgemeine Lohnniveau nicht sinkt.
Um dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu begegnen, würden Sie Immobilienkonzerne sogar enteignen. Was würde das bringen?
Wir unterstützen das Berliner Volksbegehren "Deutsche Wohnen, Vonovia & Co enteignen". Es geht uns nicht um gemeinnützige Wohnungsgesellschaften, auch nicht um private Eigentümer, sondern um riesige, börsennotierte Immobilienkonzerne. Wohnungen sind nicht dafür da, Rendite zu erzielen. Vonovia hat im letzten Jahr 2.045 Euro pro Wohnung an seine Aktionäre ausgeschüttet, das heißt, jeder Vonovia-Mieter zahlt rein rechnerisch jeden Monat 170 Euro an die Aktionäre. Diese Konzerne vernichten eher Wohnraum, als dass sie neuen schaffen: Sie kaufen Wohnungen auf, sanieren sie teilweise und vermieten sie teurer weiter. Die öffentliche Hand muss wieder mehr Einfluss auf Wohnungen bekommen.
Wieso glauben Sie, dass deutsche Kommunen gute Vermieter wären? In Berlin hat sich die Verwaltung schon bei Großunterkünften für Geflüchtete so über den Tisch ziehen lassen wie das Bundesgesundheitsministerium bei Masken.
Das stimmt leider! Kommunale Wohnungsgesellschaften sind vielerorts Teil des Problems und nicht der Lösung, weil sie selbst hochpreisig bauen. Aber immerhin haben sie eine Satzung und den Auftrag, für das Gemeinwohl zu handeln. Bei der Aktiengesellschaft ist das nicht der Fall, die müssen Rendite abwerfen für die Investoren – im Gegensatz zur kommunalen Wohnungsgesellschaft, die anders agieren könnten.
Es sei denn, die Stadt will Profite abschöpfen …
... kommunale Wohnungsgesellschaften sollten kein Geld an den städtischen Haushalt abführen müssen, sondern bezahlbare Wohnungen schaffen.
Sie würden Berlins gescheiterten Mietendeckel gern in ganz Deutschland einführen. In der Hauptstadt sind zuletzt weniger Neuvermietungen zustande gekommen als zuvor; Wohnungsbauprojekte liegen auf Eis. Könnte ein Mietenstopp in Ballungszentren womöglich zu weniger statt zu mehr Wohnraum führen?
Das glaube ich nicht. Als Mittel gegen Wohnungsknappheit wird immer "Bauen, Bauen, Bauen" angepriesen. Nur kann das nicht funktionieren, wenn wir ständig bezahlbare Wohnungen verlieren; es ist auch klimapolitisch nicht klug. Fakt ist: Alle zwölf Minuten fällt eine Sozialwohnung aus der Sozialbindung. Diese Wohnungen sind ja nicht weg, sondern werden so teuer, dass man sie sich nicht mehr leisten kann. Wir müssen also etwas tun im Gebäudebestand. Da ist zum Beispiel die Rentnerin, die seit 40 Jahren in der Familien-Fünfzimmerwohnung wohnt, und jetzt alleine lebt. Sie hätte gern eine barrierefreie Zweizimmerwohnung, kann sie sich aber nicht leisten, weil ihre Miete sich verdreifachen würde. Wieso ermöglichen wir ihr keinen Wohnungstausch mit dem jungen Paar, das das zweite Kind erwartet?
Und was bringt da der Mietendeckel?
Er ist ein Instrument, um eine Verschnaufpause auf dem überhitzten Markt zu gewinnen; Berlin hat ihn als "Akt der Notwehr" bezeichnet. Nur darf so einen Deckel laut Bundesverfassungsgericht eben nur der Bund verhängen. Dass in Berlin wenig gebaut worden ist, lag nicht am Mietendeckel, der galt ja gar nicht für Neubau, sondern unter anderem an der Steigerung der Bodenpreise durch Spekulation.
Ihre Partei will auch die Grundstückspreise deckeln. Würde das nicht Schadenersatzforderungen der Eigentümer nach sich ziehen?
Nicht, wenn der Staat Bodenspekulationsgewinne besteuert.
Ihre Partei will sogar vor den Grünen Deutschlands CO2-Neutralität erreichen, nämlich 2035, Sie fordern eine "Energierevolution". Also: dicke Pullis statt Heizen?
Wir werden das 1,5-Grad-Klimaziel verfehlen ohne ein Umsteuern. Selbst wenn alle beschlossenen CO2-Einsparziele umgesetzt würden, kämen wir laut neuesten Berechnungen auf eine Erwärmung von 2,4 Grad. Deutschland muss Bahnland werden, mit einem attraktiven, günstigen ÖPNV, auch im ländlichen Raum. Nach der Coronakrise soll niemand mehr von Frankfurt nach Stuttgart fliegen! Auch die Liberalisierung der Logistik treibt irre Blüten. Wir brauchen keinen Wettbewerb bei Paketdiensten mit der Folge, dass mehrere Zusteller in dieselbe Straße fahren. Wir brauchen ein anderes Wirtschaften und einen sozialen Ausgleich. Die Kosten für den Klimaschutz dürfen nicht denen aufgebürdet werden, die ohnehin wenig haben, sondern den Verursachern. Ein sozial-ökologischer Umbau kann die Lebensqualität steigern, und führt eben nicht zu dem, was Sie an die Wand malen: dass wir frieren müssen.
Der Grüne Anton Hofreiter ist dafür verhöhnt worden, dass er gesagt hat, dass Einfamilienhäuser pro Kopf mehr Energie verbrauchen als Mehrfamilienhäuser. Auch alte, unsanierte Wohnungen sind für den Klimaschutz Gift, dafür aber billig. Wie wollen Sie die soziale Frage mit der ökologischen versöhnen?
Die energetische Sanierung muss vorangehen, aber über Förderprogramme statt über Mietsteigerungen. Klimaschutz darf nicht zu Lasten derer gehen, deren CO2-Fußabdruck am geringsten ist, weil sie am wenigsten haben. Sonst zahlen Leute für eine Party, auf der sie gar nicht waren.
Und wie würden Sie die mit dem größeren Fußabdruck zum Verzicht bewegen: mit Verboten?
Die Frage ist, was man als erstes macht: Verbietet man erst den Autoverkehr in der Innenstadt oder macht man Bus und Bahn attraktiver und schafft damit Alternativen? Wenn die Menschen bequem zum Nulltarif in die City fahren können, mit Bahnhöfen, die so gepflegt sind wie Flughäfen, kann man Städte autofrei machen. Dann geht es nicht um Verzicht, sondern um einen Gewinn an Lebensqualität. Die Städte stehen voll mit parkenden Autos. Was würden wir an Platz gewinnen, für Grünanlagen, für Ateliers, aber auch für Wohnungen, denken Sie nur an die Parkhäuser. Pendler stünden nicht im Stau, und die Luft wäre viel besser.
Bei der letzten Bundestagswahl verlor Ihre Partei 400.000 Zweitstimmen gegenüber 2013 an die AfD. In Sachsen-Anhalt hat sich dieser Trend kürzlich fortgesetzt. Wie wollen Sie diese Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen, fragt "Drobs" aus Dresden?
Die AfD ist überall da stark, wo sie ihre Themen auf die Agenda setzen konnte – dort, wo die Unionsparteien rechte Themen besetzen. Wir als Linke müssen deutlich machen, dass wir in Opposition stehen zu den herrschenden Verhältnissen: zur sozialen Ungerechtigkeit, zur ungleichen Verteilung von Reichtum. Die AfD ist eine zutiefst rassistische Partei, die keine Antworten auf diese Probleme hat.
Viele Politikerinnen und Politiker sind von Rechtsradikalen angegriffen worden, vor zwei Jahren ist der Kassler Regierungspräsident Walter Lübcke sogar ermordet worden. Sie haben anonyme Drohbriefe von einem "NSU 2.0" erhalten. Was muss passieren?
Die Gefahr von Rechts betrifft alltäglich vor allem nicht prominente Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religionszugehörigkeit oder schlicht ihres Namens angefeindet werden. Auch wenn im Fall NSU 2.0 ein Verdächtiger festgenommen worden ist: Wir wissen noch nicht, ob der Mann zu einem Netzwerk gehört hat. Nach den Attentaten in Kassel oder Hanau gab es einen öffentlichen Aufschrei, die Innenminister rüsten verbal auf – aber an die Strukturen dahinter geht niemand. Reflexhaft ist die Rede von "Einzeltaten", von "Einzeltätern". Dabei muss man die rechte Szene entwaffnen, Haftbefehle auch vollstrecken, die Zivilgesellschaft stärken.
Was machen Sie, wenn Ihre Partei nicht die Fünfprozenthürde schafft?
Wir schaffen sie! Wir sind die Partei des Straßenwahlkampfes, der Kundgebungen – all das fehlte uns während der Pandemie. Aber wir kämpfen um Direktmandate und stehen in den Umfragen bei sechs bis acht Prozent: Wir kommen wieder in den Bundestag.
Die Interviewreihe mit Berliner Politikspitzen der demokratischen Parteien vor der Bundestagswahl am 26. September hat Annette Bruhns vom Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt im Namen von 20 deutschen Straßenzeitungen geführt, unter ihnen wir von HEMPELS. Zu Wort kamen Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, FDP-Parteichef Christian Lindner, Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet und die Co-Spitzenkandidatin der Linken, Janine Wissler.