"Hinzuverdienstgrenzen beim ALG II sind skandalös ungerecht"
Interview mit FDP-Chef Christian Lindner, erschienen im Juni 2021
Herr Lindner, Sie besitzen einen Porsche, eine Rennfahrerlizenz und einen Jagdschein, sind also ein gemachter Mann. Wir 20 Straßenzeitungen glauben, dass Sie trotzdem etwas mit obdachlosen Menschen gemein haben. Raten Sie mal, was.
Den Begriff "gemachter Mann" finde ich rätselhaft, denn er klingt für mich nach dem Zutun von anderen. Tatsächlich bestreite ich seit meinem 18. Geburtstag meinen Lebensunterhalt selbst, geschenkt hat mir niemand etwas.
Wir dachten an Folgendes: Viele wohnungslose Menschen beziehen staatliche Grundsicherung, Sie leben seit Ihrem 22. Lebensjahr von staatlichen Diäten. Allerdings reichen die Ihnen nicht: Sie haben allein in dieser Legislaturperiode mehr als 400.000 Euro dazu verdient. Wohlfahrtsverbände finden den Hartz-IV-Regelsatz auch zu niedrig und fordern eine Aufstockung auf 600 Euro. Gehen Sie da mit?
Mir können Sie solche zugespitzten Fragen gerne stellen. Aber auch eine Polizistin oder ein Krankenpfleger beziehen ihre Gehälter aus öffentlichen Mitteln. Es führt nicht weiter, wenn jede Tätigkeit, die sich aus Steuergeldern finanziert, mit Sozialleistungen verglichen wird. In der Sache bin ich dafür, dass sich die Höhe der Grundsicherung daran orientiert, welche Bedürfnisse bestehen und wie die Preise sich entwickeln. Das sollten Fachleute festlegen, das ist nichts für Wahlkampfversprechen. Viel wichtiger ist es mir, den Menschen zu erleichtern, sich durch eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten. Ganz konkret halte ich die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II für skandalös ungerecht.
Das wird die Straßenzeitungsverkäufer freuen, die Hartz IV beziehen. Wie stehen Sie zur Forderung, den Freibetrag beim Zuverdienst von jetzt 100 Euro auf 400 Euro anzuheben?
Genau das ist unsere Forderung. Jeder, der einen Euro hinzuverdient, muss mehr als die Hälfte davon behalten können. Übrigens muss auch die Höhe des Minijobs angepasst werden. Denn wenn der Mindestlohn steigt, haben viele Betroffene dennoch nicht mehr Geld, wenn es bei 450 Euro bleibt. Die müssen stattdessen die Arbeitszeit reduzieren, das bremst Aufstiegschancen. Deshalb sollte die Höhe des Minijobs immer das 60fache des jeweiligen Mindeststundenlohns betragen.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der Grüne Robert Habeck fordern höhere Steuern für Gutverdiener. Wären Sie bereit, mehr abzugeben?
Zu glauben, es habe nur positive Folgen, wenn man Steuern erhöht, weil dann der Staat über mehr Geld verfügt, greift zu kurz. Es muss immer alles erst erwirtschaftet werden, bevor es verteilt werden kann. Die Aufgabe lautet doch, mehr gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen und in neue Technologien zu investieren. Dafür muss es Spielräume geben. Ich bin also für eine Senkung von Steuern für Beschäftigte und Betriebe.
Wie will die FDP die Kluft zwischen Arm und Reich verringern? Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kommen wir immer mehr in die Nähe von US-Verhältnissen bei der Vermögensverteilung.
Wir müssen die Aufstiegschance für jede Frau und jeden Mann erhöhen. Wir brauchen einen treffsicheren Sozialstaat, der für die Menschen ein Sprungbrett in die Selbstbestimmung ist und nicht wirkt wie ein Magnet, der Menschen eher festhält. Die größte Form der Ungleichheit ist für mich die der Bildung. Nirgendwo sonst in entwickelten Gesellschaften entscheidet der Zufall der Geburt so sehr über Lebenschancen. Das halte ich für einen Skandal! Wir brauchen mehr Frühförderung von Kindern, hinsichtlich des Spracherwerbs schon vor der Einschulung, und viel mehr individuelle Förderung an öffentlichen Schulen. Kein junger Mensch sollte die Schule ohne einen Abschluss verlassen.
Die SPD Nordrhein-Westfalen nannte 2009 Ihre Landes-FDP die "Partei der sozialen Kälte". Grund: Die schwarz-gelbe Regierungskoalition kürzte die Landesgelder für Obdachlosenhilfe damals um 1,12 Millionen Euro. Sie sagten damals, die Kommunen seien alleine für die Obdachlosenhilfe zuständig. Sehen Sie das heute noch so?
Der Ausflug in die Geschichte ist noch nicht vollständig. Denn zeitgleich hat die von der FDP mitgetragene Bundesregierung die Kommunen von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlastet. Das machte für die Städte und Gemeinden seitdem Hunderte von Millionen Euro an Einsparungen aus, die zum Beispiel für soziale Vorhaben oder Investitionen genutzt werden könnten. Oberstes Ziel: So lange es geht, müssen Menschen ihre Wohnung behalten können, sei es mittels Grundsicherung, Schuldnerberatung, gesundheitlicher Hilfestellung. Das muss nah am Menschen geschehen, also auf der kommunalen Ebene. Genauso vielschichtig wie die Problemlage muss das Hilfesystem sein.
Obdachlosigkeit ist heutzutage vorwiegend ein Ergebnis von Migration: Immer mehr Menschen aus armen EU-Ländern landen in prekären Arbeitsverhältnissen, sei es auf Schlachthöfen oder auf Baustellen oder als Putzkräfte, und im Winter dann oft auf der Straße. Was würde die FDP in einer Regierungskoalition tun, um dieses Elend zu stoppen?
Wir müssen über die Qualität der Arbeitsverhältnisse nachdenken, zum Beispiel im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie. Und wir müssen die Verantwortung der Herkunftsländer stärken. Das ist eine Frage, die man hinsichtlich der Migration in Europa stellen muss: Was ist mit der sozialen Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedsstaats? Zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, darf nicht zu Verelendung führen. Es geht um eine unbearbeitete Aufgabe, die sich durch die Freizügigkeit innerhalb der EU stellt.
Die Mindestlöhne für Saisonkräfte liegen häufig unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro. Die SPD will den Mindestlohn auf 12 Euro abheben. Was versprechen Sie prekär Beschäftigten?
Eine Aufstiegsperspektive. Unsere Hauptanstrengung muss darin liegen, dass niemand dauerhaft zu den Bedingungen eines Mindestlohns oder generell prekär arbeiten muss. Die Perspektive sollte sein, immer wieder neue Qualifikationsangebote zu unterbreiten, und zwar maßgeschneiderte. Was die Untergrenze des Mindestlohns angeht: Wir haben gute Erfahrung damit, dies in die Hände einer unabhängigen Kommission zu legen, die dafür sorgt, dass der Mindestlohn regelmäßig angepasst wird, und dass die Lohnfindung nicht politisiert wird. Nicht parteipolitische Interessen dürfen eine Rolle spielen, sondern arbeitsmarkt- und sozialpolitische Erwägungen.
Die FDP spricht sich aus für "Housing First", also dass Obdachlose erst mal eine Wohnung bekommen, ohne groß nachweisen zu müssen, dass sie dafür geeignet sind. Wie sollen die Kommunen das finanzieren?
Ich bin dezidiert der Meinung, dass wir die kommunale Ebene stärken müssen. Weil sich die Aufgaben der unterschiedlichen öffentlichen Ebenen verändern. Aufgaben, die der Staat den Gemeinden überträgt, muss er immer mitfinanzieren. Die Kommunen sind unser erstes Auffangnetz bei Notlagen.
In Wien gibt es neuerdings als Housing-First-Angebote "Chancenhäuser": Hier werden Obdachlose – einzeln, als Paar, als Familie – für drei Monate einquartiert und beraten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. In der Hälfte der Fälle mit Erfolg …
… klingt für mich nach einem guten Modell auch für deutsche Kommunen, ein maßgeschneidertes 360-Grad-Konzept aus der Obdachlosigkeit.
Ihre Partei fordert, dass der Staat elektronische Akten für obdachlose Menschen einrichtet, damit sie auch ohne Meldeadresse an ihre privaten Daten kommen können. Wären Sie für solche E-Akten für alle Bürger?
Unbedingt. Ich war vor einiger Zeit in Estland: Dort können Sie Ihre Meldeanschrift genauso leicht wie Ihre Anschrift im Amazon-Account ändern. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung scheint mir besonders nach den Erfahrungen in dieser Pandemie enorm wichtig: Lassen wir Corona das letzte Kapitel im Leben des Faxgeräts gewesen sein!
Sie werfen den Grünen vor, den Menschen den Traum vom eigenen Haus zu vermiesen. Zugleich fehlen allenthalben bezahlbare Wohnungen. Dafür hören wir Sie weniger laut trommeln. Zufall?
Das Gegenteil ist der Fall: Keine Partei setzt sich ähnlich stark für bezahlbaren Wohnraum ein wie die FDP und ist auch bereit, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Wer bezahlbare Wohnungen will, der muss so viel wie möglich bauen, beispielsweise hier in Berlin auch auf dem Tempelhofer Feld. Der muss Flächen bereitstellen. Und der kann nicht, wie die Grünen, bauliche Standards über Gebühr erhöhen und damit verteuern. Weil dann nicht einmal mehr große Baugenossenschaften Mietwohnungen errichten können. Wir wollen die Wohnungsnot reduzieren durch mehr Angebot. Schlüssel dazu: Senken von Baustandards, Ausweisen neuer Flächen, weniger Grunderwerbssteuer.
Geht denn beides, wenn Deutschland die Pariser Klimaschutzziele erreichen will: Kann man den fortschreitenden Flächenverbrauch senken und zugleich mehr Wohnungen und Einfamilienhäuser bauen?
Der Klimaschutz ist eine globale Aufgabe. Nur in Hückeswagen im Bergischen Land CO2 einzusparen, indem man auf neue Einfamilienhäuser verzichtet, macht für das Weltklima keinen echten Unterschied. Die Grünen wählen für den Klimaschutz ihren Weg, wir einen anderen: globales Denken und Ideenwettbewerb. Wir müssen mit entwickelter Technologie die Steigerung des CO2-Ausstoßes begrenzen. Also etwa Millionen von Pkw in Deutschland mit synthetischen, klimafreundlichen Kraftstoffen versorgen – statt einseitig nur auf die Elektromobilität zu setzen.
Wie steht es mit dem Bau von Sozialwohnungen? Die SPD verspricht 100.000 pro Jahr. Gehen Sie da mit, und wenn ja, soll die der private Sektor bauen oder die öffentliche Hand?
Ich würde immer die Förderung von Menschen der Förderung von Steinen vorziehen. In die Sozialwohnung ist vielleicht der studentische Bafög-Empfänger eingezogen und hat sie noch als Professor bewohnt. Ich bin ein Befürworter individueller Wohnkostenzuschüsse, für die individuelle Bedarfslage. Privaten Bauträgern bestimmte Auflagen zu unterbreiten, halte ich für denkbar. Also zum Beispiel: Wenn jemand ein Haus mit acht Wohneinheiten baut, kann sie oder er die beiden Penthousewohnungen zu hohen Quadratmeterpreisen anbieten, solange in tieferen Etagen günstige Wohnungen entstehen. Diese Mischung hätte zugleich eine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Pluralität zur Folge.
Sie haben vor einem Jahr zugelassen, dass ein FDP-Politiker mit Stimmen der AfD thüringischer Ministerpräsident wurde. Ein Fehler, haben Sie hinterher gesagt. Mit Ihren Positionen zu Corona sind Sie wieder nahe an der AfD: Sie fordern Öffnungen, für Läden, für Hotels – freilich bei mehr Schutz von Risikogruppen. Sie sagen dabei nicht, dass Corona ein Virus ist, dass Ärmere viel häufiger trifft, weil sie beengt wohnen und nicht im Homeoffice arbeiten können. Ist Ihnen deren Gesundheit egal?
Sie haben eine Frage gestellt, die der Sortierung bedarf. Ich habe auf gar keinen Fall zugelassen, dass jemand mit den Stimmen der AfD gewählt worden ist. Sondern ein aufrechter Demokrat ist in eine Falle der AfD gelaufen. So hat es Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei formuliert. Zweitens ist die Pandemiepolitik der FDP nicht vergleichbar mit der der AfD. Wir wollen durch innovative Maßnahmen mehr gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben erlauben, aber sehen das Risiko, dass in der Erkrankung liegt und leugnen es nicht. Man tut der AfD einen Gefallen, wenn man sie in einem Atemzug mit der FDP nennt und verharmlost die politische Gefahr, die von ihr ausgeht. Dritter Punkt: Gesundheitsschutz darf nicht abhängig sein von Lebensverhältnissen. Masken oder Schnelltests müssen an Menschen abgegeben werden, die sich das nicht selbst leisten können, damit wirkungsvolle Hygiene keine Frage des Einkommens ist.
Olaf Scholz haben wir gefragt, was er macht, wenn er nicht Kanzler wird. Sie fragen wir, was Sie machen, wenn Schwarz-Grün Sie zum Tanz bittet: Werfen Sie wieder hin, wenn nicht nach Ihrer Pfeife getanzt wird?
Wenn es eine gemeinsame Choreographie gibt, sind wir gerne mit dabei. Aber nach der Pfeife anderer tanzen, beziehungsweise das, was vor der Wahl versprochen wurde, nicht zu liefern, wäre respektlos.
Und wenn Sie Vizekanzler wären: Was würden Sie als erstes versuchen zu ändern?
Für Aufstiegsgerechtigkeit sorgen! Meine Leidenschaft gehört denen, die ihren Weg gehen wollen. Keinem geht es besser, wenn wir "denen da oben" etwas wegnehmen, etwa durch eine Vermögensteuer. Sondern die Frage ist: Wie ändern wir das Leben derer, die aufsteigen wollen. Da will ich für neue Chancen sorgen.
Die Interviewreihe mit Berliner Politikspitzen der demokratischen Parteien vor der Bundestagswahl am 26. September hat Annette Bruhns vom Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt im Namen von 20 deutschen Straßenzeitungen geführt, unter ihnen wir von HEMPELS. Zu Wort kamen Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, FDP-Parteichef Christian Lindner, Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet und die Co-Spitzenkandidatin der Linken, Janine Wissler.