"Ein Dach über dem Kopf wahrt menschliche Würde"
Interview mit Grünen-Co-Parteichef Robert Habeck, erschienen im April 2021
INTERVIEW: ANNETTE BRUHNS
Herr Habeck, vor Ihnen sitzen 20 deutsche Straßenzeitungen, angesiedelt zwischen Schleswig-Holstein und München, Düsseldorf und Dresden. Gemeinsamer Nenner unserer Fragen: Wie rot sind diese Grünen eigentlich, die womöglich ab Herbst mitregieren?
Wenn mit "rot" gemeint ist, eine gerechtere, sozialere Gesellschaft zu schaffen, kann ich sagen: Wir haben in den letzten drei Jahren unser sozialpolitisches Profil deutlich geschärft.
Tatsächlich will Ihre Partei Hartz IV abschaffen und durch eine "Grundsicherung" ersetzen, eine staatliche Leistung, die mehr Geld verspricht und an weniger Bedingungen geknüpft wäre. Der Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Es ist richtig, dass wir Hartz IV überwinden wollen. Wir wollen eine Garantiesicherung, damit jede und jeder verlässlich vor Armut geschützt ist. Sie sollte mit mehr Geld mehr Teilhabe ermöglichen und Anreize geben anstatt die Menschen mit Sanktionen zu gängeln. Von einem bedingungslosen Einkommen unterscheidet sich das, weil es eben doch an eine Bedingung geknüpft ist: Die Garantiesicherung sollen die erhalten, die es brauchen.
Gegen Kinderarmut wollen die Grünen auch etwas tun: Eine steuerliche "Kindergrundsicherung" soll Kinder unabhängig vom Beziehungsstatus der Eltern fördern. Dafür soll das Ehegattensplitting weichen. Würden Sie eine schwarz-grüne Regierungsehe für die Abschaffung der ehelichen Splittingvorteile riskieren?
Alle Kinder sollten dem Staat gleich viel wert sein. Das ist heute nicht der Fall. Gutverdiener erhalten für ihre Kinder faktisch mehr Geld, Kinder aus einkommensschwachen Haushalten haben deutlich schlechtere Chancen. Deshalb wollen wir eine Kindergrundsicherung, die allen Kindern garantiert, was sie zum Leben brauchen.
Und wenn nicht, würden Sie dann über eine Abschaffung des Ehegattensplittings Koalitionsgespräche platzen lassen?
Politik bedeutet, Veränderungen voranzubringen – und nicht, sich durch rote Linien zu lähmen. Wir argumentieren jeweils für unsere Ideen und versuchen, das Beste zu erreichen.
... und Hartz IV? Wäre die Abschaffung für Sie verhandelbar?
Es geht darum, politische Mehrheiten zu schaffen und dann möglichst viel durchzusetzen. Eine Status-Quo-Regierung wird es mit uns nicht geben. Was wir dann klima-, sozial- oder europapolitisch durchsetzen, hängt auch davon ab, wie gut wir bei der Wahl abschneiden.
Im grünen Grundsatzprogramm steht oft das Wort "Umverteilung". Würden unter einem Kanzler oder Vizekanzler Robert Habeck die Reichen zur Kasse gebeten?
Ich halte die höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen für angemessen und notwendig.
Ihre Partei will das Recht auf Wohnen im Grundgesetz verankern. Was versprechen Sie sich davon?
Eine Umkehr von der sozialpolitischen Logik, wonach ein wohnungsloser Mensch erst beweisen muss, dass sie oder er mit den eigenen vier Wänden verantwortungsvoll umgehen kann, bevor er einziehen darf. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Sicherheit eines Dachs über dem Kopf animiert dazu, verantwortlicher und selbstbestimmter zu leben. Das Wohnrecht und die Grundsicherung sind für uns Pfeiler einer die Würde des Menschen achtenden Gesellschaft.
Bundestag und Europaparlament haben beschlossen, bis 2030 die Obdachlosigkeit abzuschaffen. Klingt schön, allerdings halten sich die Dinge oft nicht an EU-Beschlüsse. Sonst wären die EU-Gewässer seit 2015 in einem "guten Zustand". Würde eine grüne Regierung Bundesmittel bereitstellen, damit die Kommunen Obdachlose in Wohnungen einquartieren wie es etwa Finnland vormacht mit seinem "Housing First"-Programm?
"Housing First" überzeugt und korrespondiert mit unserer Forderung nach Wohnen als Grundrecht. Studien zufolge finanziert sich das quasi selbst: Man stellt am Anfang das Geld bereit, das man später wieder einspart, etwa für Sozialarbeit, Psychotherapie, Polizei, Prozesse. Wenn der Bund ernst machen will mit der Abschaffung der Obdachlosigkeit, sollte er den Kommunen bei "Housing First"-Programmen helfen.
Der Trend geht in die gegenläufige Richtung: In Großstädten wie Hamburg hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Die Mehrheit stammt aus armen EU-Staaten. Sie kommen, um zu arbeiten, landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen und stranden am Ende auf der Straße. Wie wollen die Grünen diese Elendsspirale beenden?
Wenn Menschen ihr Leben in ihrem Heimatland aufgegeben haben, um hier zu arbeiten und dann scheitern, sind sie ja trotzdem da. Wenn dann nur Obdachlosigkeit bleibt, verschärft sich das Elend. Deshalb wollen wir sie besser sozial absichern. Entscheidend ist aber, schon früher anzusetzen, also konsequent gegen Schwarzarbeit und Drückerlöhne zu kämpfen. Damit beginnt die Spirale ja viel zu oft.
Viele Unions- aber auch SPD-Politiker befürchten eine Sogwirkung, wenn EU-Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleich behandelt würden, also dass dann immer mehr Arbeitslose aus Rumänien, Polen oder Bulgarien einwandern. Wie sehen Sie das?
Im Moment geraten die Leute ja vor allem in miserable Beschäftigungsverhältnisse. Wenn man die Gleichbehandlung an das Suchen und die Aufnahme von Arbeit knüpft, ist sie gerechtfertigt. Die Leute kommen her, um zu arbeiten, und nicht, um zu verarmen.
Aus der Stadt mit den höchsten Mieten, aus München mit der Zeitung "Biss", kommt die Frage, wie die Grünen für billigen Wohnraum in teuren Städten sorgen wollen?
Bauen! Vor allem öffentliches Bauen hilft. Und wenn privat gebaut wird, sollten Quartiere einen Wohnungsanteil für Ärmere vorhalten müssen.
Berlin hat einen Mietendeckel statt der Mietpreisbremse, der grüne Bezirk Friedrichshain trommelt für ein starkes Vorkaufsrecht der öffentlichen Hand bei Immobilien. Modelle für den Bund?
Das sind Modelle für die extremen Hochpreisgebiete in den Kommunen. Es sind Eingriffe in den Markt, und man wird sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Aber wenn Wohnen ein Recht ist, braucht der Staat auch Mittel, um es durchsetzen zu können.
Aus welchen Etats soll das Geld herkommen – für die Grundsicherung, für "Housing First"-Wohnungen, für Frauenhäuser: Wollen die Grünen weniger für Rüstung zahlen? Oder den Bauern weniger geben? Sollen die Steuern steigen?
Die Investitionsausgaben würden wir kreditfinanzieren. Dazu gehören Neubauten und Sanierungen, aber auch der Bau von Frauenhäusern, Obdachlosenunterkünften. Wir werben seit langem dafür, die Schuldenbremse dafür zu reformieren, und es gibt jetzt auch Stimmen aus der CDU in die Richtung. Konsumtive Ausgaben wie die Garantiesicherung müssen sich aus Steuern refinanzieren. Die größte Gerechtigkeitslücke, die wir haben, sind dabei nicht bezahlte Steuern. Wenn wir konsequent Steuerbetrug bekämpfen würden, stünden EU-weit zwei- bis dreistellige Milliardensummen zur Verfügung. Da müssen wir handeln.
Schwerins Straßenzeitung hat ihre Verkäuferinnen und Verkäufer gefragt, mit welchem Promi sie gerne Kaffee trinken würden. Die Menschen nannten Popstars, Sportler und Schauspieler; mit einem Politiker wollte niemand Kaffee trinken. Warum ist Ihre Kaste so unbeliebt?
Vielleicht, weil Streit zum Wesen der Demokratie gehört und Streitende unsympathisch sind. Aber es ist in den letzten Jahren viel Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Fairness der Politik verloren gegangen. Gewinne von Banken und Spekulanten wurden privatisiert, Verluste zahlte die Allgemeinheit. Was sich eingebrannt hat, ist das Gefühl, die Politik schützt die Macht, nicht die Menschen. Ich glaube, dass wir als Politikerinnen und Politiker sehr daran arbeiten müssen, Vertrauen wieder herzustellen.
Die Schweriner Straßenzeitung hat eine weitere Frage: Was würden Sie als erstes ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären?
Am liebsten: Das Containern erlauben! Das ist gewiss nicht die wichtigste Reform. Aber das Verbot, brauchbare Lebensmittel zu retten, ist eine Sache, die mir besonders unsinnig erscheint und die man schnell ändern könnte.
Die Interviewreihe mit Berliner Politikspitzen der demokratischen Parteien vor der Bundestagswahl am 26. September hat Annette Bruhns vom Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt im Namen von 20 deutschen Straßenzeitungen geführt, unter ihnen wir von HEMPELS. Zu Wort kamen Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, FDP-Parteichef Christian Lindner, Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet und die Co-Spitzenkandidatin der Linken, Janine Wissler.